Kunst – Brauchst du das noch oder kann das weg?
Ich stehe vor einer riesigen Leinwand. Vor mir ein flirrendes Farbspiel von verschiedenen Blau- und Grüntönen. Dazwischen entdecke ich Inseln von Farbe in Magenta und Rosé. Die Pinselstriche sind noch in der pastös aufgetragenen Farbe zu erkennen. Ich habe das Gefühl, einzutauchen, ein Teil dieses Ensembles zu sein. Ich bin umgeben von Licht, Farbe und Schönheit. Ein paar Meter trete ich zurück und die einzelnen Farbflecken verbinden sich zu Seerosen, Blättern und Spiegelungen auf der Wasseroberfläche eines Teiches. Erst mit dem richtigen Abstand kreiert mein Auge aus vielen einzelnen Farbflecken wie aus vielen Puzzleteilen ein erkennbares Bild.
Erinnerst du dich noch an das Jahr 2004, in welchem das MOMA in New York einen Teil seines Bestandes in der Neuen Nationalgalerie in Berlin gezeigt hat? Ich stand damals 4 Stunden in der Warteschlange. Endlich in der Ausstellung drinnen angekommen, werde ich nie das Gemälde aus der Serie der „Seerosen“ von Claude Monet vergessen. Es war gefühlt riesig und ich konnte meine Blicke nicht mehr davon lösen, so überwältigt war ich vom Farbenspiel. Ich hätte Stunden vor diesem Bild verbringen können, so verzaubert und berührt war ich davon. Wie kann ein einzelner Mensch so etwas Schönes erschaffen?
Dieses Erlebnis eines Kunstwerkes war prägend für mich. In den Jahren danach machten immer wieder spektakuläre Kunst-Ausstellungen mit langen Besucherschlangen von sich reden. Ob Gustav Klimt oder Frida Kahlo. Kunst war zum Massenevent geworden.
Heute im Jahr 2024 bin ich etwas ratlos. Kunst-Ausstellungen ziehen immer weniger Besucher an. Spielt Kunst überhaupt noch eine Rolle? Wenn ja, für wen und warum? In diesem Artikel möchte ich dies näher beleuchten.
Was ist Kunst?
Keine Angst: Ich quäle dich nicht mit einer trockenen Abhandlung über den Kunstbegriff. Ich mache es kurz und beziehe mich auf Kolja Reichert, der in seinem Buch „Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst“ schreibt: „Ein gelungenes Kunstwerk ist wie ein Loch in die Welt, durch das man von außen auf sie schauen kann.“ Wie ein Kind, das einen ihm unbekannten Gegenstand zum ersten Mal in den Händen hält und keine Ahnung hat, was es da vor sich sieht. Es erforscht seine Beschaffenheit und probiert aus, was damit anzufangen ist. Es hat noch keine Bezeichnung dafür und keine Erfahrung damit gemacht.
Wenn wir Menschen ein bestimmtes Alter erreicht haben, kennen wir die meisten Dinge, die uns umgeben. Wir haben ihnen Namen oder Begriffe gegeben und wissen, wie mit ihnen umzugehen ist. Wir wissen, dass Schokopudding lecker schmeckt, Kekse krümeln und man von zu viel Alkohol einen Kater bekommt. Irgendwann ist alles bekannt und wir laufen in unserem Alltag auf Autopilot.
Das ist gut und wichtig so, denn sonst könnten wir unser Leben nicht mehr bewältigen. Aber ab und zu sollten wir den Autopiloten ausschalten. Kunst bietet ganz gezielt die Möglichkeit dafür.
Wenn wir in eine Kunst-Ausstellung gehen, liefern wir uns genau diesem „ersten Unwissen“ aus. Wir stehen vor Bildern und Objekten, für die wir keine Zuordnung haben. Es entsteht Verunsicherung. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen.
Wenn du eine spielerische Natur bist, gehst du neugierig an dieses Objekt heran und erforschst es. Vielleicht machst du eine neue Erkenntnis damit, vielleicht wirst du auch emotional berührt.
Gehörst du eher zu den Skeptikern, wirst du dich wahrscheinlich hilflos fühlen, weil du keine Schublade findest, in der du das Objekt unterbringen kannst. Je weniger das gelingt, umso mehr wächst in dir der Frust darüber. „Was soll der Blödsinn?“, wirst du ausrufen und die Ausstellung mit einem Kopfschütteln verlassen.
Aber der Sinn von Kunst im Museum ist es nicht, uns in erster Linie zu erfreuen (auch wenn bei Bildern von Monet das zutrifft), sondern unseren Wahrnehmungsmuskel zu trainieren.
Und sicherlich macht es ein Monet mit seinen Seerosen es uns mit unseren Wahrnehmungsgewohnheiten einfacher, als ein Joseph Beuys mit seiner Fettecke.
Warum brauchen wir das Training unserer Wahrnehmung?
Weil unsere Welt sich immer schneller verändert. Ich bin Anfang der 70er Jahre geboren. Die Welt schien klar geordnet in eine vor und eine hinter dem Eisernen Vorhang. Gesellschaftliche Veränderungen liefen gefühlt in Zeitlupe ab. Z.B war die Büroarbeit geprägt von Briefen, die mühselig auf der Schreibmaschine getippt, und dann tagelang mit der Post unterwegs waren zu ihrem Empfänger. Mit einer Antwort war nicht vor 14 Tagen zu rechnen.
Mit dem Einzug der Digitalisierung hat sich das Tempo rasant vervielfacht. Schnell ist eine E-Mail auf der Computertastatur geschrieben, verschickt und die Antwort kommt bereits nach Minuten ins virtuelle Postfach. Damit verbunden erhöhte sich auch das Tempo gesellschaftlicher Entwicklungen.
Da überrollt ein Virus die ganze Welt und legt sämtlichen Reiseverkehr und die Wirtschaft lahm. Kurz darauf gibt es einen Krieg in Europa, den niemand für möglich gehalten hat und es strömen Menschen in unser Land, deren Kultur uns unbekannt ist. Auch das Wetter ändert sich: Hitzeperioden wechseln sich mit Starkregen und Hochwasser ab. Tagtäglich stehen wir vor Tatsachen und Entwicklungen, für die wir keine Schublade und erst recht keine schnelle Lösung haben.
Genauso wie wir uns fühlen, wenn wir vor einem Kunstwerk ohne Bedienungsanleitung stehen. Wir haben keine Ahnung, wie wir dieses zu verstehen haben. Weil es nicht die eine „richtige“ Herangehensweise an diese Probleme gibt. Aber es braucht Offenheit und den Willen, sich mit Neuem, Unbekanntem auseinanderzusetzen. Das eigene Unwissen erst einmal anzunehmen und auch auszuhalten. Immer und immer wieder.
Nur zu gut kann ich die Rufe nach jemandem verstehen, der uns eine einfache Lösung fertig serviert und wir den Kopf weiter in den Sand bzw. heute in Netflix stecken, bis das Ungemach hoffentlich vorbeigezogen ist. Denn die permanente Auseinandersetzung mit komplexen Erscheinungen ist zutiefst anstrengend. Doch wenn wir der Bequemlichkeit nachgeben, werden wir ein böses Erwachen erleben.
Die Menschen sind müde und überfordert vom Alltag
Aber warum schreibe ich das alles? Weil ich eine gewisse Müdigkeit gegenüber der Kunst feststelle. Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen. Dort gab es wenig Ablenkung vom stupiden Arbeiter- und Bauern-Alltag. Im Kino lief jede Woche ein neuer Film und das Fernsehen bot offiziell zwei Programme. Damals war eine Vernissage eine willkommene Abwechslung. Man konnte dort vielleicht sogar hinter vorgehaltener Hand über die politische Führung der Rentnerpartei diskutieren.
Heute sieht das Bild anders aus: Im Kino buhlen 20 Filme um die Aufmerksamkeit und im Fernsehen gibt es 500 Kanäle, dazu noch die Streaming-Plattformen mit einer schier nicht enden wollenden Flut von Serien.
Hinzu kommt, dass die Menschen in ihrem beruflichen Alltag vor so viele Herausforderungen gestellt werden, wie kaum in der Geschichte bisher. Als Beispiel nenne ich hier die Lehrerin, deren Auftrag es ist, eine Klasse zu unterrichten. In dieser befinden sich Kinder aus 9 Nationalitäten, teils ohne Deutschkenntnisse, zusammen mit Kindern, die ein Störungsbild der Aufmerksamkeit und Sinneswahrnehmung aufweisen. Nicht zu vergessen noch die Kinder, die die Konflikte aus ihrem Elternhaus in die Schule mitbringen. Diese Frau will abends verständlicherweise nur noch ihre Ruhe.
Doch wäre das nicht allein schon genug, gibt es da noch das Handy, unseren neuen geliebten Gefährten. Es macht nichts anderes, als uns zusätzlich Tag für Tag mit neuen Bildern und Reizen zu überfluten. Die Sucht nach dem Dopamin-Kick macht es möglich und gleichzeitig unmöglich, ihm zu widerstehen.
Menschen nehmen heute so viele Informationen auf, wie noch nie. Und haben am Wochenende keine Lust mehr auf noch mehr Reize, auf noch mehr neue Bilder und der damit einhergehenden Verunsicherung.
Mir geht da nicht anders. Das ist ein Dilemma, für das ich keine schnelle Lösung habe. Einerseits braucht unser Gehirn Ruhe und andererseits erfordert es das heutige Leben, dass wir flexibel unsere Welt betrachten und uns immer wieder eine eigene Meinung bilden, ohne auf vorgefertigte zurückzugreifen. Das alles ist anstrengend.
Ein möglicher Weg, mit der komplexer werdenden Welt umzugehen
Wir werden lernen müssen, die Bilderflut zu kontrollieren. Genau auszuwählen, welchen Kanälen wir noch folgen. Welche Nachrichtensendungen wir noch anschauen und auf welchen Social-Media-Kanälen wir uns aufhalten.
Wir werden trainieren müssen, auszuwählen und bewusst zu entscheiden, was wir noch an uns heranlassen. Ich denke, dass es wichtig ist, ab und zu ganz gezielt eine Kunstausstellung auszuwählen und sich der Kunst und dem Unwissen auszusetzen. Die Erlebnisse dort können unsere Wahrnehmung schärfen für das, was wir zur Bewältigung der Probleme in unserem Alltag brauchen.
Sie stärken die Bereitschaft, Widersprüche auszuhalten und immer wieder sich darauf zu besinnen, dass wir Menschen sind. Kunst zu erschaffen, unterscheidet uns vom Tier. Wenn wir vergessen, ein Mensch zu sein, laufen wir Gefahr, Opfer von schnellen Lösungen und sogar Gewalt gegenüber vermeintlich Schuldigen zu werden.
Was Kunst mit uns macht
Ich möchte dies an einem Beispiel für zeitgenössische Kunst deutlich machen. Das Kunstwerk von Felix González Torres: „Untitled (Public Opinion)“ macht uns auch erst ratlos. Denn es besteht nur aus Bonbons, die mitten im Raum zu einem Haufen aufgeschüttet wurden. Versehen mit einem Schild, auf dem eine Aufforderung zu lesen ist, sich ruhig daran bedienen zu dürfen. Dem kommen dann auch die Besucher nach und im Laufe eines Tages wird der Bonbonhaufen immer kleiner.
Vielleicht würde es dich freuen, dass hier der Künstler dir etwas Gutes in Form eines Bonbons tun wollte. Aber du wunderst dich auch darüber, was da soll? Und richtig! Es geht nicht wirklich um den Genuss von Bonbons. Felix Gonzáles Torres hatte einen Lebensgefährten, den er an die Krankheit Aids verloren hat. Der Schmerz über den Verlust war riesig. Die Anzahl der Bonbons ist nicht willkürlich gewählt. Sie entsprechen exakt dem Gewicht seines Lebensgefährten. Jeden Morgen wird der Haufen wieder auf dieses Gewicht aufgefüllt. Und dann nimmt es im Laufe eines Tages wieder ab. Er verschwindet langsam, so wie sein Lebensgefährte langsam verschwunden ist.
Diese Geschichte zusammen mit der sinnlichen Erfahrung des großen Haufens an Bonbons berührt uns. Es macht menschliches Sein, was von Werden und Vergehen, von Liebe und Verlust geprägt ist, so viel tiefer erfahrbar. Das kann nur Kunst und dafür liebe ich sie.
Wie geht es dir mit der Kunst in der heutigen Zeit? Spielt sie in deinem Leben noch eine Rolle? Hast du noch Raum für sie oder verschwindet sie langsam aus deinem Leben? Schreib es mir gerne in die Kommentare oder per E-Mail. Mich interessiert deine Sichtweise, gerade auch, wenn sie eine andere als meine ist.
Quelle: Kolja Reichert „Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst“, 2022, Klett-Cotta, Stuttgart